Inklusion

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Sehr geehrte Besucher*innen des MOVE im Rahmen des 50. BMW BERLIN-MARATHON,

als vor einem halben Jahrhundert vor dem Mommsenstadion im Berliner Bezirk Charlottenburg der Startschuss zum 1. Berliner Volksmarathon fiel, ahnte keiner der 286 Teilnehmenden, dass sich der BERLIN-MARATHON zu dem entwickelt, was er heute ist.

Der BMW BERLIN-MARATHON wuchs in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu einer Traditionsveranstaltung, die aus den heutigen Sportkalendern nicht mehr wegzudenken ist. In diesem Jahr rechnen wir mit über 50.000 Läufer*innen, die sich kurz nach dem Brandenburger Tor als Finisher mit der wohlverdienten Medaillen schmücken werden - hinzu kommen die Skater, Handbiker und Rennrollstuhlfahrer*innen.

Was derzeit bei vielen Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften als innovativ gilt, auch den Breitensport und Inklusion zu integrieren, um damit weitere Akzeptanz zu schaffen, ist beim BMW BERLIN-MARATHON seit seinen Anfängen ein fester Bestandteil. Spitzensport auf Weltniveau und Breitensport sowie Inklusion sind daher schon immer Säulen unserer erfolgreichen Umsetzungen.

Bereits in Anfangsjahren des BERLIN-MARATHON wurde ganzheitlich gedacht, so war die Integration von Handbikern und Rollstuhlfahrer*innen in die Veranstaltung früh ein Thema, das stets weiterentwickelt wird. Grundwerte wie Weltoffenheit, Toleranz und Akzeptanz sind für SCC EVENTS als Organisatoren des BMW BERLIN-MARATHON eine Selbstverständlichkeit.

Der BMW BERLIN-MARATHON ist eine aufgeschlossene Veranstaltung ganz ohne Diskriminierung und Homophobie, bei dem alle Menschen herzlich willkommen sind, die zusammen ein friedliches Sportler*innenfest feiern mögen.

Mit dem MOVE am Brandenburger Tor wurde ein Ort der Begegnung, ein Raum zum Verweilen und Genießen geschaffen. Durch die Ausstellungen im MOVE werden die Geschichte und das Flair des BMW BERLIN-MARATHON erlebbar. Wir sind sehr glücklich darüber, dass das Projekt UNSEEN den MOVE so meisterhaft bereichert.

Jürgen Lock und Christian Jost

Management Board SCC EVENTS

Schritt für Schritt zur Inklusion

Ich fühle mich geehrt, dieses Vorwort zu verfassen und möchte dem SC Charlottenburg meinen herzlichen Glückwunsch zum 50-jährigen Jubiläum aussprechen. Gemeinsam haben wir die Berliner Marathon-Geschichte geschrieben.

Seit dem ersten Start des Marathons 1974 hat sich viel verändert. Die Strecke wurde in die Stadt verlegt, 1981 nahmen erstmals Rollstuhlfahrer*innen teil, und 1994 wurde das Rollstuhl-Marathon-Rennen der Behinderten-Weltmeisterschaften ausgetragen. Seit 2004 gibt es einen Wettkampf für Handbiker*innen, und 2005 startete ich mit blinden und sehbehinderten Läufer*innen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 in Deutschland in Kraft trat, markierte einen Wandel hin zur Bereicherung menschlicher Vielfalt. Seit 2017 werden die Internationalen Deutschen Meisterschaften Para Leichtathletik ausgetragen und 2022 nahmen Athlet*innen der Special Olympics teil.

Dieser Rückblick zeigt, dass Athlet*innen mit Behinderungen selbstverständlich zum Berlin Marathon dazuge-
hören. Die Veranstaltung setzte um, was ich über meine Karriere gesagt habe: „Die meisten meiner Wettkämpfe laufe ich mit Sehenden im Lauffeld, inklusiv.“

Seit Jahren ist die gleichberechtigte Teilnahme von Athlet*innen mit Beeinträchtigungen möglich. Menschen mit Behinderungen werden sichtbar, was sich auf andere Lebensbereiche positiv auswirkt. Ob mit oder ohne Behinderungen, wir alle wollen auf der schnellsten Strecke der Welt die stimmungsvollste Kulisse erleben!

Regina Vollbrecht

Beauftragte für Menschen mit Behinderungen, Bezirksamt Berlin Reinickendorf

Der BMW BERLIN-MARATHON ist offen für alle

Um die Belange von Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen kümmern sich bei SCC EVENTS zwei Frauen. Seit 2017 ist Nadine Mietke für die Organisation und Betreuung der Elite-Athlet*innen der Rollstuhl- und Handbike-Wettbewerbe verantwortlich. Bereits 1981 starteten die ersten Rollstuhlfahrenden beim BERLIN-MARATHON, Anfang der 2000er kamen die Handbiker dazu.

Georgia Andrews begann 2023 bei SCC EVENTS und zeichnet verantwortlich für alle Themen von der Anmeldung bis zum Eventtag, die Hobbysportler*innen mit Beeinträchtigungen betreffen. Menschen mit Handicap gehören seit vielen Jahren zum Bild der Starter*innenfeldern in Berlin. So lief 1984 der erste Athlet mit Sehbeeinträchtigung in Begleitung seines Fahrrad-Guides.

Nadine und Georgia koordinieren den im Rahmen des BMW BERLIN-MARATHON ausgetragenen Inklusionslauf. Dieser findet in Zusammenarbeit mit den Special Olympics Deutschland und der Fürst Donnersmarck-Stiftung statt. Darüber hinaus richtet der Deutsche Behindertensportverband und Nationales Paralympisches Komitee im Zug des BMW BERLIN-MARATHON regelmäßig seine Deutschen Meisterschaften im Marathon aus.

Nadine Mietke

Pro Athletes and Para Sport (SCC EVENTS)
nadine.mietke@scc-events.com

Georgia Andrews

Participant Management (SCC EVENTS)
georgia.andrews@scc-events.com

Panel Inklusion

Im Rahmen der Ausstellung 50 Jahre BMW BERLIN-MARATHON im MOVE findet am 28.09. das Podiumsgespräch „Grenzen überwinden - Breaking boundaries“ zum Thema Inklusion statt.

Zum Programm

Panelist*innen

Regina Vollbrecht
Thomas Eller
Richard Whitehead
Uwe Wegener

Moderation

Dr. Martin Theben

Awareness-Team

BDB e.V.

Nicht auf den ersten Blick

Viele Beeinträchtigungen sind nicht auf den ersten Blick erkennbar, seien es chronische Schmerzen, ME/CFS, Depressionen, Psychosen oder Lernbeeinträchtigungen. Außenstehende denken oft nicht an diese Beeinträchtigungen, wenn es um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geht.

Im Sport gibt es Regeln und Erwartungen an die Sporttreibenden, die hohe Barrieren darstellen. So ist es schwierig für Menschen mit phasenhaften Krankheitsverläufen, wie Depressionen oder MS-Schüben, kontinuierlich und in gleicher Stärke am Sportbetrieb teilzunehmen. Auch sind in Sportgruppen oft Umgangsformen vorhanden, die es Menschen mit sozialen Ängsten oder Menschen, die nicht den erwarteten sozialen Normen entsprechen, schwer machen. Meist gibt es wenig Wissen über die verschiedenen Beeinträchtigungen und deren Folgen.

Es gibt es einiges, was für viele Menschen mit nicht sofort erkennbaren Beeinträchtigungen hilfreich ist. Dazu gehören zum Beispiel Rückzugsräume und angepasste Trainingspläne mit genügend Pausen und Ruhezeiten. Selbst bei gleicher Diagnose können jedoch die Bedürfnisse und Herausforderungen stark variieren. Das erfordert flexible und personalisierte Ansätze. Unabdingbar ist ein offenes, nicht-stigmatisierendes Klima, in dem gemeinsam mit der beeinträchtigten Person die Barrieren identifiziert und Maßnahmen für deren Abbau gefunden werden. Dadurch kann eine inklusivere und unterstützende Sportumgebung geschaffen werden, die allen zugutekommt.

Angebote für Menschen mit psychischer oder geistiger Beeinträchtigung in Berlin:

Sportangebote für Menschen mit psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen gibt es fast nur als ärztlich verordneten Rehasport oder als Leistung der Eingliederungshilfe bei psychosozialen Trägern. Niedrigschwellige oder inklusive Angebote sind sehr dünn gesät.

Das „Netzwerk für Gesundheit und Bewegung” Berliner psychosozialer Träger bietet verschiedene Sportgruppen an, die teilweise auch für Nicht-Klienten offen sind:

  • Albatros gGmbH – Eingliederungshilfen Tageszentren Tegel-Süd

In Kürze startet eine Laufgruppe für Menschen mit Depressionen. Diese ist ein Gemeinschaftsprojekt vom Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Berlin und der Selbsthilfeorganisation bipolaris:

  • Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Berlin e.V.
  • bipolaris – Manie & Depression Selbsthilfevereinigung Berlin-Brandenburg e.V.

Der „SCL Sportclub Lebenshilfe Berlin” bietet Schwimmen, Gymnastik und Ballsport an. Er wendet sich an Menschen mit geistiger Behinderung, mehrfacher Behinderung und Menschen ohne Handicap:

  • SCL Sportclub Lebenshilfe Berlin e.V.
Uwe Wegener

Gründer der „bipolaris – Manie & Depression Selbsthilfevereinigung Berlin-Brandenburg e.V.“ und von „DER LAUF & DER MARKT für seelische Gesundheit“
uwe.wegener@bipolaris-mail.de

Thomas Eller

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„Die meisten Menschen sind erstaunt, dass ich als tauber Mensch überhaupt einen Marathon geschafft habe.”

Während seines Lehramtsstudiums in Köln begann Thomas täglich 5-10 Kilometer zu laufen, um den Kopf frei zu bekommen und seine Augen zu entlasten. Er bezeichnet sich selbst als „Augenmensch“, da er das fehlende Gehör durch visuelle Eindrücke kompensiert. Laufen hilft ihm, mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen, besonders der Erschöpfung durch Lippenlesen.

2018 lief er seinen ersten Marathon im Wüstensand von Petra, Jordanien, und wurde Vierter. Diese Erfahrung half ihm, Vorurteile gegenüber tauben Menschen auszuräumen und für mehr Inklusion einzustehen. Durch seine Teilnahme an den sechs Abbott World Marathon Majors (Tokyo, Boston, London, Berlin, Chicago, New York City) setzt er ein Zeichen für die Gehörlosengemeinschaft und ist der erste taube Six Star Finisher der Welt. 2024 wird er in Sydney starten, um seine „Big 7“ zu vervollständigen.

Der BMW BERLIN-Marathon hat besondere Bedeutung für Thomas. 2019 lief er hier seine Bestzeit von 2:47:11 Stunden, was ihm die Teilnahme an den Deaflympics 2022 einbrachte. Dieses Jahr reisen seine tauben Schüler*innen mit nach Berlin, um ihn anzufeuern. Dies stärkt ihre Identitätsbildung und Akzeptanz ihrer Behinderung und setzt ein starkes Zeichen für die Inklusion.

Als Läufer und Lehrer für gehörlose Kinder zeigt er, dass auch taube Menschen Großartiges erreichen können. Sein Ziel ist es, die Kluft zwischen der gehörlosen und hörenden Gesellschaft zu überbrücken und eine inklusivere Welt zu schaffen.

Richard Whitehead

Ich heiße Richard Whitehead, bin 48 Jahre alt und habe vor 20 Jahren mit dem Laufen begonnen. Vor meinem 28. Lebensjahr gab es weder Laufprothesen noch irgendeine andere Möglichkeit zu laufen. Doch sobald ich meine Prothesen bekam, wusste ich, dass mir keine Grenzen mehr gesetzt sind.

Mein erster Marathon war der TCS New York City Marathon 2004. Ich war ein unerfahrener Läufer und beendete ihn in 5:19 Stunden. Im Jahr 2024, beim TCS London Marathon, war ich der schnellste beidseitig beinamputierte Läufer der Welt mit einer Zeit von 2:42 Stunden. Noch in diesem Jahr werde ich meinen 80. Marathon mit dem Ziel laufen, die Strecke in etwa 2:35 Stunden zu absolvieren und dabei erneut einen Weltrekord als schnellster beidseitig beinamputierter Marathonläufer aufzustellen. Damit möchte ich beweisen, dass alles möglich ist.

Ich möchte durch meine Leistungen zeigen, dass Laufen ein inklusiver Sport ist. Wer mich laufen sieht, wird erkennen, dass ich mich nicht nur Menschen mit Behinderungen gegenüber verbunden fühle, sondern mit allen, die das Laufen so sehr lieben wie die Herausforderungen, am Ende eines Rennens die Ziellinie zu überqueren.

Der Gewinn von Gold bei den Paralympics in London 2012 und Rio 2016 hat mir das gleiche Gefühl von Euphorie und Stolz gegeben, dass ich beim Zieleinlauf meines ersten Marathons hatte. Dieses Gefühl möchte ich mit anderen teilen.

Mein Rat: Beginne deine Marathonreise langsam und stetig, indem du einen Fuß vor den anderen setzt. Vergleiche deinen Erfolg nicht mit dem der anderen. Konzentriere dich auf deine eigenen Leistungen, denn das Laufen eines Marathons ist der Beginn eines glücklicheren und gesünderen Lebens.

Unsichtbare Wege

Der Fotograf und Künstler Sebastian Wells, der selbst bereits bei 11 von 49 BMW Berlin-Marathon fotografiert hat, traf sieben außergewöhnliche Menschen, die sich von keiner Einschränkung aufhalten lassen.

September 1984. Es war ein regnerischer Vormittag für das Publikum des BERLIN-MARATHON, als plötzlich ein Läufer weit vorne auftauchte, der sich, an einer Schnur festhaltend, von einem Fahrradfahrer begleiten ließ: Werner Rathert, Jahrgang ‘36, Startnummer 100. Rathert war blind - und kam nach nur 2:35:12 Stunden ins Ziel.

Heute finden immer mehr blinde und sehbehinderte Menschen den Weg zum Laufsport, und jedes Jahr nehmen viele von ihnen am BMW Berlin-Marathon teil. Doch Hindernisse sind auf diesem Weg oft vorprogrammiert. Blinde und sehbehinderte Läuferinnen müssen nicht nur das schnelle Laufen trainieren, sondern sich auch ständig mit der Beschaffenheit und der räumlichen Vorstellung ihrer Laufstrecke vertraut machen. Außerdem benötigen sie sehende Begleitläuferinnen, die oft schwer zu finden sind.

Tien-Fung Yap

„Wer möchte schon im richtigen Leben blind sein“, fragt sich Tien-Fung Yap bei einem morgendlichen 10 km-Lauf mit seinem Guide Julian Gering. „In meine paralympische Starterklasse T12 schummeln sich oft Leute hinein, die eigentlich in die Klasse T13 gehören und ohne Guide zurechtkämen“, kritisiert Tien-Fung, der beste deutsche sehbehinderte Marathonläufer. Viele Konkurrenten gäben bei den medizinischen Tests einfach an, etwas nicht zu sehen.

Tien-Fung wuchs in Gelsenkirchen auf und spielte Fußball und Tischtennis, bis er mit 17 Jahren auf dem linken Auge plötzlich schlechter sah. Heute beträgt seine Sehleistung noch etwa 5%, da er an Leberscher Optikusatrophie leidet. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen“, erinnert er sich an den Schock. „Dieser Schicksalsschlag hat aber auch viele Kräfte in mir freigesetzt. Ich bin heute ein ganz anderer Mensch“, sagt Tien-Fung rückblickend.

Früher gab er viel Geld für Sportwetten aus und ließ sich oft hängen. Heute betreut er als Physiotherapeut andere Sportler*innen und feierte 2021 einen Höhepunkt seiner Karriere. In 2 Stunden und 45 Minuten brach Yap 2022 den deutschen Rekord.

Tien-Fungs Wohnort richtet sich danach, ob er genügend Guides findet. Erst letztes Jahr zog er von Mainz nach Freiburg. In den grünen Tälern des Breisgau rennt Tien-Fung seinem paralympischen Traum hinterher. Doch Mitte Juli kam die Nachricht aus Paris: er ist wieder nicht nominiert. Er hätte sich so sehr gefreut!

Michaela Kummer

„Marathonlaufen ist wie Kinderkriegen. Zwischendurch denkst du mal, so eine Kacke, aber am Ziel ist es gar nicht mehr so schlimm“, sagt Michaela Kummer. Die Masseurin aus Calw im Schwarzwald hat zwei Kinder und absolvierte ein Dutzend Marathons trotz der Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, die sie fast erblinden ließ.

Lange versteckte sie ihre Behinderung, um nicht als behindert gesehen zu werden. Ein Schlüsselerlebnis hatte sie, als ihr Mann Oliver nach einem Radrennen mit ihr nach Hause fahren wollte und Michaela versehentlich in ein fremdes Auto der gleichen Farbe einstieg. „Oli wusste dann, ich sehe wirklich fast gar nichts”, erinnert sie sich.

Weder der Liebe noch dem Sport tat das einen Abbruch. Oliver begleitet sie seither bei Trainings und Wettkämpfen. 2010 lief sie in Frankfurt Weltrekord: 3 Stunden und 11 Minuten. Ihr Traum, bei den Paralympics zu starten, erfüllte sich jedoch nie: „Es war einfach kein Interesse da“, sagt Michaela frustriert über mangelnde Sportförderung und bürokratische Hürden.

Erst 2017, vor den Paralympics in Tokio, rief Bundestrainerin Marion Peters zu Hause in Calw an. „Läuft ihre Mutter noch?“, fragte sie Michaelas Sohn am Telefon. „Wissen Sie eigentlich, wie alt meine Mutter ist?“, antwortete er schlagfertig, wohlwissend, dass seiner Mutter alles zuzutrauen ist. Michaela sagt: „Ich wollte immer ein Vorbild sein. Ich wollte zeigen, okay, ich sehe nicht gut, aber ich kann trotzdem was.“

Ulrike Wilhelm

Wenn Ulrike Wilhelm vom Laufen spricht, spricht sie von der Freude ihres Lebens und zugleich von der ständigen Erinnerung an zwei plötzliche Verluste.

2007, als ihr Vater Wilfried gerade mal 69 Jahre alt war, brach er zu einem Trainings-lauf auf und kam nie wieder zurück. Ein Herzinfarkt beendete das Leben des Läufers, der 31 Mal am Rennsteiglauf teilnahm.

Nicht nur die Leidenschaft für das Laufen hat Ulrike von ihrem Vater geerbt, sondern auch ihre Krankheit: Aniridie. Das bedeutet, dass die Iris fehlt oder fehlentwickelt ist. Ulrike sieht noch 2% auf einem Auge, auf dem anderen ist sie völlig blind. Vom Laufen abgehalten hat sie das nicht. Im Gegenteil: Ulrike hat sogar missioniert.

Als sie 1993 ihren Partner Torsten kennenlernte, brauchte sie nicht lange, um den Fußballer vom Laufen zu überzeugen. Gemeinsam nahmen sie an unzähligen Rennen teil, genossen Trainingsläufe rund um ihren Heimatort Harras und ließen sich von den Zuschauermengen beim Berlin-Marathon anfeuern. Ihre Bestzeit: 3:58 Stunden.

Dann kam der nächste Schock. Nur sechs Jahre ist es her, als Torsten bei der Prüfung für den Motorradführerschein tödlich verunglückte. Ulrike verlor nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Begleitläufer. Seitdem trainiert sie alleine - mit großer Vorsicht und nur auf gut bekannten Strecken. Doch um an Wettkämpfen teilzunehmen, braucht sie einen Guide. Den zu finden, bleibt ein Dilemma.

Melina Gerber

Der Sportunterricht in der Regelschule war für Melina Gerber, die mit der Netzhautkrankheit Retinitis pigmentosa geboren wurde, oft ein Alptraum. Bei Ballspielen traf sie die Bälle nicht, beim Tischtennis lief sie gegen die Tischkante und vor den Laufrunden versteckte sie sich hinter einem Baum.

Konnte sie als Kind noch rund 30 Prozent sehen, sind es heute nur noch knapp drei. Doch ihr Sporttrauma hat sie überwunden: „Nach einem Beziehungsstreit habe ich 2017 mit meiner Cousine angefangen zu joggen. Ich wollte abnehmen und den Kopf frei bekommen.”

Noch im selben Jahr nahm Melina an Wettkämpfen teil, genoss das Laufen vor Publikum, stieß aber auch schnell auf die größte Schwierigkeit: „Ich musste lernen, dem Guide zu vertrauen.“ Ein Vertrauen, das sie immer wieder neu aufbauen musste. „2018 hatte ich einen Knöchelbruch. Mein Begleitläufer war von einem Radfahrer abgelenkt, so dass ich den Bordstein falsch erwischte.“ Die Angst, dass das nochmal passiert, lief bei Melina lange mit, doch der Spaß am Laufen war größer.

Auch unter ihren Kolleg*innen im Finanzministerium fand Melina viele Begleitläufer*innen. „Gesundheitsmanagement wird dort groß geschrieben“. Melina ist ebenso dankbar wie für die Unterstützung ihrer Familie: Als vor dem GENERALI Berliner Halbmarathon 2022 ihre beiden Guides ausfielen, sprang ihre Mutter ein – von Haus aus keine Läuferin, „aber egal. Wir haben es geschafft.”

Regina Vollbrecht

„Ich habe es immer eilig gehabt“, kokettiert Regina Vollbrecht. Im siebten Monat kam sie als Frühchen plötzlich zur Welt. Im Brutkasten war die Sauerstoffdosierung zu hoch eingestellt, ihre Netzhaut löste sich. Regina kann nichts sehen - von Geburt an. Aber sie hatte es tatsächlich immer eilig.

Reginas sportliche Karriere lässt sich kaum in wenigen Zeilen zusammenfassen. 15 Jahre lang war die Berlinerin ein Aushängeschild des Blindensports. Im Goalball nahm sie an den Paralympics teil, über 5000 Meter unterbot sie den Weltrekord, und im Marathon stellte sie gar einen neuen auf.

Doch ihr größter Traum, als Marathonläuferin bei den Paralympics an den Start zu gehen, erfüllte sich nie. „Ich war ein paar Jahre zu früh dran“, sagt Regina, die sich mehr Unterstützung vom Deutschen Behindertensportverband gewünscht hätte. Erst bei den Paralympics 2016 in Rio stand die Disziplin erstmals für Frauen auf dem Programm. Doch sechs Jahre, nachdem Regina beim Frankfurt-Marathon sensationelle 3:15 Stunden gelaufen war, spielte ihr Körper nicht mehr mit. Leistungssport und Vollzeitjob unter einen Hut zu bringen, wurde ihr zu viel.

„Ich bin jetzt zwar keine Leistungssportlerin mehr, aber mit allem, was man so tut, ist man trotzdem jemand, der mit Kampfkraft gesegnet ist“, weiß Regina, die sich das Laufen als Hobby bewahrt hat, doch sich als Beauftragte für Menschen mit Behinderungen des Bezirkes Reinickendorf noch immer unermüdlich für eine inklusive Gesellschaft einsetzt.

Michael Bentele

Michael Bentele war noch im Kindergartenalter, als er mit seiner jüngeren Schwester Verena die Grenzen des Machbaren austestete. „Du könntest doch aus dem Fenster springen“, schlug Michael seiner Schwester vor, die noch zu klein war, um die Stufen zum Balkon selbst hinunterzuklettern. Verena sprang tatsächlich, bekam einen Schreck, landete aber unversehrt eine Etage tiefer. Zwar wurde das blinde Geschwisterpaar später nicht mit Skispringen, sondern mit Langlauf und Biathlon bekannt, doch das Austesten von Grenzen blieb für die beiden eine Konstante.

Langlaufen, ohne sehen zu können, ist eine solche Grenze. „Man muss immer reisen, um zum Schnee zu kommen. Und es war schwierig, Begleitläufer zu finden, weil es nicht so viele gute Langläufer gibt, die das machen wollen“, erinnert sich Michael an seine Zeit als Leistungssportler, die leider nie mit dem Medaillensegen gekrönt war, den seine Schwester erfahren hat.

Das Laufen ohne Ski war da schon einfacher. Denn die Guides sind nicht wie beim Langlauf ganz auf Zuruf angewiesen, sondern über eine Schnur direkt mit dem blinden Sportler verbunden. Doch Menschen, die das zum ersten Mal sehen, reagieren nicht selten abschätzig: „Der hat ihn ja an der Leine!“ ist einer der Kommentare, auf die Michael inzwischen gelassener zu reagieren weiß: „Meistens versuche ich den Leuten einfach zu erklären, was los ist“. Denn eines ist klar: „Der Laufzirkus ist schon ein sehr netter Zirkus“.

Stefan Orben

Stefan Orben war gerade drei Jahre alt, als er bei einem Unfall von einer Glasflasche in die Augen getroffen wurde. Ein Auge erblindete sofort, das andere wurde stark beeinträchtigt. Um es möglichst zu erhalten und Verletzungen zu vermeiden, rieten ihm die Ärzte, keinen Sport zu treiben. “Ich habe immer versucht, mit diesem Sehrest alles wahrzunehmen. Das hat mich sehr angestrengt. Vor allem draußen habe ich manchmal Dinge gesehen, die gar nicht da waren”, erinnert sich Stefan.

Nach vielen Operationen verlor er mit 26 Jahren auch sein zweites Auge. Für den Schriftsteller war der Verlust aber auch eine neu gewonnene Freiheit: “Als die Angst, ganz blind zu werden, weg war, verspürte ich plötzlich einen großen Bewegungsdrang.” Stefan versuchte sich auf dem Laufband und wusste sofort, dass das sein Sport war.

Durch Aushänge an der Universität fand er seine ersten Begleitläufer*innen und stieß später auf das Guidenetzwerk Deutschland, bei dem er heute selbst Guideschulungen anbietet. “Es macht Spaß zu sehen, dass die Schulungen so gut angenommen werden und so viele das machen wollen.”

Eine Anerkennung für Stefan, der sich wünscht, dass die Vereine noch mehr Mittel bekommen, um blinde Läufer*innen besser fördern zu können. „Als Parasportler muss man sich um fast alles selbst kümmern“, bedauert Stefan, der sich schon auf den nächsten BMW Berlin-Marathon freut, weil er dort stets auf tatkräftige Unterstützung vom Straßenrand zählen kann: “Man kann sich von den Zuschauern wirklich über die vielen Kilometer tragen lassen”.